Last Updated on 31. Mai 2022 by Tarotwissen
Wen wundert’s, dass eine Tarotkarte, die vom englischen Geheimorden Golden Dawn zum „Herrn der Verzweiflung und Grausamkeit“ ernannt wurde, wenig Anklang in der Tarotwelt findet. Schließlich hatten schon die Tarot-Großmeister Arthur E. Waite und Aleister Crowley kaum etwas Positives über die Neun der Schwerter zu sagen. So verbindet Waite sie in seinem Bilderschlüssel zum Tarot mit divinatorischen Bedeutungen wie Tod, Fehlschlag, Fehlgeburt und Verzweiflung.
Bevor du weiterliest: Hier gibt es ein tolles Video zu den 9 der Schwerter und der aktuellen Zeitqualität im Juni 2022.
Und Crowley verlegt ihre Wirkungskraft in seinem Buch Thoth gar in das Reich der primitiven Instinkte, der Psychopathen und Fanatiker.
Tarotkarte 9 Schwerter — Mars in Zwillinge
Begründet werden diese wenig appetitlichen Assoziationen von den geistigen Vätern der Tarot-Klassiker mit der astrologischen Verbindung dieses Kleinen Arkanums mit Mars in Zwillinge, einer Konstellation die in der Literatur mit einem zynischen (inneren) Kritiker, Richter oder eiskalten Inquisitor gleichgesetzt wird. Auch die kabbalistische Verbindung der Neun Schwerter zur Sephirah Yesod, die – vom Mond bestimmt – tief unten im kabbalistischen Lebensbaum angesiedelt ist, macht die Sache nicht wirklich besser, da unter ihrem wässrigen Einfluss die scharfen Verstandes-Waffen der Schwerter-Energie rostig und stumpf werden können.
Gleichzeitig jedoch kann Yesod als zentraler Punkt im Lebensbaums dazu verhelfen, gedankliche Unordnung zu strukturieren und lang gehegte Illusionen endgültig zu beseitigen: Notwendige Voraussetzung dafür, wenn wir Sterblichen uns aus dem irdischen Königreich Malkuth in höhere spirituelle Sphären begeben wollen.
Die Tarotkarte 9 Schwerter bei Waite-Smith
Es ist also doch nicht alles so düster, wie es auf den ersten Blick scheint. So wirkt das für Waite von Pamela Colman-Smith geschaffene Bild zwar lichtlos und sorgenvoll. Doch ist die Gestalt, die hier vielleicht aus beängstigenden Träumen erwacht (den Nachhall dieser Albträume können wir auf der ins Bett geschnitzten Kampfszene vermuten), mit einem schützenden Motiv aus Rosen und astrologischen Zeichen bedeckt. Außerdem hängen die Schwerter hinter, nicht über ihr. Sie sperren so möglicherweise die Sicht auf Vergangenes.
Den Blick in die Zukunft werden sie jedoch kaum verhindern, wenn die Gestalt mutig genug ist, endlich die Hände von den Augen zu nehmen und die Karte licht werden zu lassen. Die auffällig ordentliche Aneinanderreihung dieser Schwertersperre wurde von einer meiner Schülerinnen übrigens einmal als „Himmelsleiter“ bezeichnet. Ein schönes Bild dafür, dass wir konfuse und negativen Gedankenfragmente, die uns in der Vergangenheit halten, erst einmal mental strukturieren müssen, um uns zu kühnsten Geisteshöhen und neuen Ideen aufschwingen können. Mir fällt bei der Karte auch immer eine Klapp-Jalousie ein, die ich einfach bewegen kann, damit Licht in die Dunkelheit eindringen kann.
Die Tarotkarte 9 Schwerter bei Crowley-Harris
Auch die für Aleister Crowley von Frieda Harris entworfene Version dieser Tarotkarte ist nicht nur darauf angelegt, dass uns, wie Lon Milo DuQuette es in seinem Thoth Erklärbuch beschreibt, „absolut schlecht“ wird. Sicher, das Rosttongemisch ist nicht wirklich appetitlich und auch die stumpfen Schwerter, die dir — ähnlich wie die auf der Waite-Smith Karte — die Sicht auf den grauen, Tränen verhangenen Hintergrund verwehren, wirken so, als hätten sie schon reichlich Wunden zugefügt. Aber es kommt noch schlimmer:
Blut und Gift träuft laut Crowley an ihnen herab. Nicht nur dieser Aspekt verbindet die Karte, die wie bereits erwähnt laut kabbalistischem Denken mit der mondigen Sephiroth Yesod korrespondiert, mit Harris’ Ausgestaltung des Atu XVIII, Der Mond. Hier wie dort siehst du dieselben rostigen Farben und Zwielichtstimmung. Hier wie dort erkennst du die Darstellung eines notwendigen Entgiftungsprozesses zur Austreibung von in der Vergangenheit entstandenen Illusionen, Zweifeln und Ängsten. Erinnern dich die Schwerter auf der Karte nicht auch an Akupunkturnadeln? Die sind zwar auch sehr unangenehm, aber auch sehr befreiend.
9 Schwerter — Verbindung zum Eremiten und Mond
Auch das die Quintessenz des Mondes bildende Große Arkanum beeinflusst die Karte. Denn wie alle Neunen lebt die 9 Schwerter die Themen des numerologisch mit ihr verbundenen Trumpfs IX, dem Eremit, in ihrem Element aus. Die der Luft zugeordneten Schwerter bewegen sich dabei im Reich des Intellekts, der Kommunikation und Gedanken. Eigentlich ein Element, das dem wissbegierigen Eremiten wirklich zusagt – und dennoch scheint er hier mit einer schwierigen Herausforderung konfrontiert.
In seinem Deutschen Tarotbuch bezeichnet Okkultist A. Frank Glahn den Erkenntnis suchenden Eremiten als „Weiser,
Wegweiser, Vorbild“. Laut ihm beleuchtet dieser Trumpf das Kommende. Gerade im Hinblick auf die 9 Schwerter ist dies für mich eine besonders treffende Beschreibung: Der alte Weise mit seiner Laterne, der sich selbst und seinen Betrachtern den Weg aus einer oft selbst erschaffenen und orientierungslosen Dunkelheit ins Licht, hin zur Wandlung (Trumpf X, das sich ewig drehende Rad des Schicksals) weisen kann.
Diese Grundstimmung macht auch die Neuner zu Karten, die uns zum genauen Hinsehen und Erkennen der tatsächlichen gegenwärtigen Umstände auffordern, damit wir uns so aus „grausamen“ Zeiten wieder auf die Sonnenseite des Lebens katapultieren.
Eine schöne Analogie zur möglichen Wirkungskraft dieser Karte bietet der leider verstorbene Tarot-Visionär Akron in seinem umfangreichen Crowley Tarot Führer an, wenn er bei der 9 Schwerter auf die griechischen Rachegöttinnen, die Erinnyen, verweist. Besonders hart verfolgten und quälten diese Plagegeister den Sohn des Helden Agamemnons: Orest. Diesem war von Sonnengott Apollo befohlen worden, seine Mutter Klytaimnestra zu töten, nachdem sie den aus Troja siegreich heimgekehrten Gatten im Bade erschlagen hatte.
Für den aufgezwungenen Muttermord wurde er dann gemeiner Weise lange Zeit von besagten Erinnyen gehetzt und fast in den Wahnsinn getrieben. Erst nach einem öffentlichen Prozess und Freispruch durch Athene, die Göttin der Vernunft, wurde er von seinem Fluch befreit und die Erinnyen in die Euminiden, die „Wohlgesonnten“ verwandelt. Eine Allegorie auf ungewollte Schuld und glückbringende Sühne, auf unverarbeitete Gewissensbisse und deren notwendige Verarbeitung wie sie die 9 Schwerter nicht besser schildern könnte.
9 der Schwerter bei Röhrig
Die Version des Künstler Carl Röhrig illustriert diesen schonungslosen Eremiten-Blick auf nackte Tatsachen hervorragend: Ein riesiges weinendes Auge dominiert das blutverschmierte Bild. Es ist betont durch dichte, dunkle Augenbrauen, reichlich Kajal und lila Lidschatten. Wie ein Fenster in unsere Vergangenheit oder gar unsere Seele wirkt diese moderne Version des Horus-Auges. Wie ein Portal, durch das wir gehen können, um Kontakt mit vergangenen Schmerzen und Nöten aufzunehmen und diese zu verarbeiten.
9 Schwerter in der Legepraxis
Was aber heißen all diese zugegeben sehr abstrakten Überlegungen (doch wann, wenn nicht im Reich der Schwerter, ist es Zeit für Intellektualität 🙂 ) nun für die konkrete Deutung der 9 Schwerter in der Legepraxis? Oft besagt die Karte, dass sich die oder der Fragende derzeit in eine Situation begeben hat, die ihm oder ihr nicht wirklich gut tut. Vielleicht tut er/sie das aber auch immer und immer wieder.
Dies kann sich relativ undramatisch in temporären Albträumen, Depression oder momentaner Gefühlserstarrung äußern, sich aber auch in chronischer Opferhaltung, Märtyrertum, Masochismus und (Selbst)zerstörungswut manifestieren. Meist reichen die Ursachen für diese Haltung auf tief sitzende Kindheitstraumata, Scham schaffende Erlebnisse oder bereits vorgeburtlich geprägte destruktive Anlagen zurück. Sätze wie „Das Leben ist eben schwer!“ oder „Ich hab eh nichts Besseres verdient.“ sind in diesem Zusammenhang oft zu vernehmen.
Fällt dann die Karte in einer Legung, kann dies bedeuten, dass diese unbewussten Muster durch aktuelle Ereignisse oder akute Schocks plötzlich aus den Tiefen des Unterbewusstseins hoch geschwemmt werden. Es liegt nun an den Fragenden selbst, lieber weiterhin grausam gegen sich selbst zu bleiben oder das entsprechende Angstthema endgültig zu überwinden. Auch auf die Gefahr hin, anderen – die sich daran gewöhnt haben, dass man klaglos zur Verfügung steht – damit vielleicht wehzutun.
Die 9 Schwerter bietet aber leider nur Befreiung und Durchbruch, wenn wir den Mut zu der Erkenntnis aufbringen, dass die wirkliche Grausamkeit der Karte darin besteht, dass wir zum Wohle anderer auf persönliche Erfüllung verzichten. Auch symbolisiert sie die Einsicht, dass wir nicht immer die gleichen Muster und Fehler durchleben müssen, wenn wir das nicht wollen. Fällt die Karte in einer Legung, bedeutet das also, dass wir gerade jetzt erneut die Chance erhalten, mit der Selbstquälerei aufzuhören und auf der luftigen Himmelsreicher Richtung rosige Zukunft zu klettern.
Manchmal, so lehrt uns die Geschichte des Orest’, schaffen wir dies nicht allein. So kann die Karte auch ein Hinweis darauf sein, tief sitzende Traumata mit begleitender professioneller Hilfe zu verarbeiten. Schließlich fordern uns das Reich der Schwerter (siehe auch meinen Artikel 6 Schwerter) auch immer zum Kommunizieren und Selbstausdruck auf.
Tarot und Gesundheit
Es erstaunt mich immer wieder, wie tiefgreifend die Aussagen der Tarotkarten sind — wieviele Schichten sie in und um mich und meine Klienten berühren. Hast du auch diese Erfahrungen gemacht? Du möchtest mehr über das Thema Tarot und Gesundheit wissen? Dann empfehle ich dir meinen Artikel Botschaft einer Krankheit hier auf diesem Blog.
Außerdem möchte ich dir — neben vielen anderen — folgendes Video empfehlen: In dieser „Mantischen Legepraxis FAQs“ beantworten mein Mann ROE und ich zahlreiche Fragen rund um Tarotethik und die richtige Handhabung der Karten, um gute Resultate zu erzielen.