Die „Heldenreise“ ist deutschen Tarot-Interessierten durch das gleichnamige, äußerst lesenswerte Buch von Hajo Banzhaf ein Begriff (heute Tarot und der Lebensweg des Menschen: Die Reise des Helden als mythologischer Schlüssel). Weniger bekannt ist vielen, dass die grundlegende Forschungsarbeit für die darin vorgestellte Grundstruktur menschlich-seelischer Entwicklung bereits 1949 vom amerikanischen Mythologen Joseph Campbell in seinem wegweisenden Werk Der Heros in tausend Gestalten geleistet wurde. Anhand der Analyse zahlreicher Mythen und Märchen aus aller Welt zeigte Campbell damals auf, dass legendäre Hauptprotagonisten immer wieder die gleichen initiatorischen Abenteuer durchleben.
Die sich für ihn herauskristallisierenden zwölf Stationen eines solchen Reifungsprozesses bezeichnete er als „Heldenfahrt“ (Hero’s Journey). Schnell fand dieses archetypische Modell großen Anklang bei Drehbuchautoren, Geschichtenerzählern, Therapeuten und Coaches: Ob Star Wars oder Pretty Woman, Die unendliche Geschichte oder Harry Potter – ihnen allen liegt das Grundmuster von Trennung, Initiation, Transformation und Integration zu Grunde: Ein sicheres Rezept für ihren Erfolg!
Joseph Campell hätte seine Theorien allerdings nie ohne das bahnbrechende Werk des Schweizer Psychiaters C. G. Jung, besonders nicht ohne seine Lehre der Archetypen, erstellen können. Heute feiern wir den 144. Geburtstag des Begründers der analytischen Psychologie.
Happy Birthday, C. G. Jung
Kaum verwunderlich, dass diese Struktur auch auf die Bilder der 22 Tarot-Trümpfe übertragen wurde – und sich Legesysteme an ihr orientierten. Letztere sind besonders geeignet, uns als Motivation und Leitfaden zur Veränderung unbefriedigender Lebensumstände zu dienen, zum Beispiel dann, wenn neue Ziele und Visionen noch unklar sind. Denn unsere Situation selbst zu verwandeln heißt, sich mutig auf die persönliche Heldenfahrt zu begeben. Sollten Sie auch gerade mit dem Thema der Veränderung hadern, reicht es völlig, die hier vorgestellte gekürzte Version der Heldenreise in sieben Stationen, bzw. Auslagepositionen anzuwenden:

Die Heldenreise im Tarot — Auslagepositionen
„Die gewohnte Welt“ (Pos. 1) beschreibt die derzeitige Situation und eine wahrscheinlich unbefriedigende Lebensroutine. Die hier liegende Karte zeigt an, was Sie an Ihrem Leben stört und was Sie verändern wollen. „Der Ruf“ (Pos. 2) symbolisiert das Signal, das Sie betreffs Ihrer Veränderung wahrnehmen sollen und vielleicht gern überhören. „Die Weigerung“ (Pos. 3) zeigt die inneren Widerstände auf, die Sie daran hindern, etwas Neues zu wagen. „Mentoren“ (Pos. 4) weisen darauf hin, wer Sie bei den gewünschten Prozessen unterstützen kann. „Der Kampf an der Schwelle“ (Pos. 5) spiegelt die eigenen größten Ängste, die Sie mit der Veränderung verbinden. Wer sich diesen Angstszenarien stellt, hat schon so gut wie gewonnen. Denn damit wird der Prozess der „Transformation“ (Pos. 6) eingeleitet. Hier erkennen Sie, welche Kräfte in Ihnen durch Krisen geweckt werden, was Ihr Rüstzeug darstellt. Die Freisetzung des in Ihnen schlummernden Potentials bringt Sie schließlich zu Ihrer „Belohnung und zur Heimkehr“ (Pos. 7). Denn dank der vorhergegangenen Prozesse können Sie nun Ihren Alltag mit neuen Augen betrachten, Sehnsüchte integrieren und Veränderungen endlich umsetzen.
Ein Beispiel aus der Legepraxis
Katrin führt ein angenehmes Leben. Sie ist Hausfrau ohne Berufsabschluss, zufrieden verheiratet und Mutter zweier jugendlicher Kinder, deren Erziehung viel Raum in ihrem Leben einnimmt. Gelegentlich beschleichen Karin Sorgen, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, wenn die Kinder einmal aus dem Haus sind – was in wenigen Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall sein wird. Als sie wieder einmal die Angst vor einer einsamen Zukunft beschleicht, zückt sie die Röhrig-Karten und begibt sich auf ihre ganz persönliche Heldenreise. Hier die Karten, die sie zieht:

Der die derzeitige Situation beschreibende Trumpf XIV – Die Kunst – spiegelt Katrins Situation als ausgleichende Kraft der Familie und als Herz des Heims, dem sie vorsteht. Die Karte weist auch darauf hin, dass sie sich in ihrer jetzigen Situation wohl fühlt und dass es ihr in der Tat sehr schwer fallen könnte, sich für eine Veränderung ihrer Lebensumstände zu begeistern. Auch der Ruf, der Katrin zur Bewegung veranlassen will, ist kein dramatischer Warnschuss. Vielmehr scheint es sich hierbei mit Trumpf II – der Hohepriesterin – um ein sanftes Drängen der eigenen Seele zu handeln, wie wir alle es wohl aus Träumen und unbestimmten Vorahnungen kennen. Irgendwie, so erhält man beim Betrachten der Bilder den Eindruck, hat Katrin vielleicht unbewusst selbst ein starkes Bedürfnis, noch weitere Aspekte ihrer Persönlichkeit als die der Mutter und Hausfrau auszuleben. Vielleicht hat sie sogar eine Idee, was für eine weitere Facette ihres Selbst das sein könnte. Dies suggeriert auch die Drei der Stäbe als Karte der Weigerung. Auch als „Tugend“ bekannt, deutet die Karte in Legungen oft darauf hin, dass der oder die Fragende zur Erfüllung persönlicher Lebensziele Altbekanntes und lieb gewonnene Menschen hinter sich lassen und sich allein auf den Weg dem eigenen Traum entgegen aufmachen muss.
Ist es also vielleicht gar nicht der Aufbruch der Kinder aus dem Heim, den Katrin fürchtet? Könnte die Karte auch Symbol ihrer eigenen Aufbruchsstimmung sein, die sie zu unterdrücken sucht? Nun, die Sechs der Schwerter, die Katrins Hilfestellung bei ihrem Problem darstellt, zeigt deutlich, dass sie nicht gleich losstürmen muss. Vielmehr liefert sie den Gedanken, sich derzeit „wissenschaftlich“ (so der Untertitel dieses kleinen Arkanums) mit der Veränderung auseinanderzusetzen. (Lehr)Bücher oder Kurse zu Themen, die sie interessieren, könnten Katrin neue Anregungen verschaffen. Es wäre unter Umständen auch eine gute Idee, sich über eine Ausbildung oder Fortbildung zu informieren. Ein Austausch mit Frauen in einer ähnlichen Situation könnte ihr sicher ebenfalls gut tun. Diese Überlegungen legen sofort den Finger auf ihre größte Wunde, die Sieben der Scheiben: Da sie während ihrer ersten Schwangerschaft ihre Ausbildung zur Ernährungsberaterin abgebrochen hatte, kann sich Katrin fast überhaupt nicht vorstellen, in der Arbeitswelt zu bestehen.
Seit damals ist sie von Versagensängsten auf der beruflichen Ebene geplagt. Umso beruhigender ist es für sie, dass sie der Ritter der Stäbe ihr als Karte der Transformation fixiert: „Komm,“ scheint er ihr verlockend zuzuraunen, „das wird dir viel Spaß machen – früher hast du dich doch unglaublich wohl in deiner Ausbildung gefühlt. Das kann sehr aufregend und belebend für dich werden. He, und deinem Sexleben scheint es auch nicht zu schaden, wenn du auch mal da draußen in der Welt deinen eigenen Ritter stehen musst!“ Es fällt Katrin schwer, sich diesen verführerischen Aussichten zu entziehen, besonders, da die Neun der Kelche ihr als Belohnung und Heimkehr große emotionale Freude und Selbstzufriedenheit verspricht, sollte sie sich dazu motivieren, noch einmal beruflich durchzustarten. Ist es nicht diese Idee, die die Hohepriesterin ihr schon seit langem durch den Kopf geistern lässt?
Gelegt – getan! Nach ihrer virtuellen Heldenreise beschließt Katrin, sich nach Ausbildungen umzusehen, die sie interessieren könnten. Derzeit ist sie noch dabei, verschiedene Optionen abzuwägen. Die Erinnerung an ihre Legung stärkt ihr dabei immer wieder den Rücken. Inzwischen freut sie sich auf die freie Zeit, die ihr der Auszug ihrer Kinder bescheren wird.