Der Künstler im Tarot

Rendezvous mit meinem Künstler — oder auch mit meiner Künstlerin — Tarot-Auslage für mehr Selbstausdruck

Last Updated on 29. Mai 2024 by Tarot­wissen

„Jeder freie Mensch ist kreativ. 
Da Kreativität einen Künstler ausmacht, 
folgt: Nur wer Künstler ist ist Mensch. 
... Jeder Mensch ist ein Künstler.“
Joseph Beuys

Kunst – was ist das über­haupt? Eine Frage, die sicher schon Stein­zeit­men­schen auf der ersten Höh­len­zeich­nungs-Ver­ni­sage hitzig debat­tierten: „Kunst kommt von Können und bedarf des ernst­haften Stu­diums bis hin zur Mei­ster­schaft,“ riefen die Intel­lek­tu­ellen unter ihnen, wäh­rend sie die Strich­füh­rung der Rüs­sel­dar­stel­lung genauer inspi­zierten. „Ach was, Kunst ent­springt dem mensch­li­chen Urtrieb nach krea­tivem Selbst­aus­druck und bedarf keiner (Ver)bildung,“ kon­terten die Gefühls­men­schen, ergriffen von der Lei­den­schaft, mit der der Rüs­sel­schwung in Szene gesetzt worden war.…

An diesem Streit hat sich bis heute kaum etwas geän­dert. Einig scheinen sich die beiden Lager nur darin zu sein, dass Kunst vom Men­schen geschaffen wird und keinem bestimmten prak­ti­schen Zweck dienen muss.

TIPP: Schaue dir auch unbe­dingt meine Serie Salon­ge­flü­ster zu diesem Thema auf You­Tube an.

Pflichtlektüre: Julie Cameron „Der Weg des Künstlers“

Die Autorin und Fil­me­ma­cherin Julia Cameron hat sich schon lange auf die Seite der Kunst-ist-Selbst­aus­druck-Ver­fechter geschlagen. Ihr Buch Der Weg des Künst­lers ist seit Jahr­zehnten Pflicht­lek­türe von Kunst­stu­denten und Thema zahl­rei­cher Work­shops zur Stei­ge­rung der eigenen Krea­ti­vität. Der darin beschrie­bene 12-Wochen-Kurs soll helfen, Ängste und Ange­wohn­heiten – ver­bor­gene Wün­sche, Wut, Neid, Per­fek­tio­nismus – abzu­bauen, die dem Ausbau der eigenen Schöp­fer­kraft – und somit laut Cameron der eigenen Beru­fung – im Wege stehen. Denn für sie ist das Schaffen von Kunst das in uns, was uns spi­ri­tu­elle Lek­tionen lehrt, uns eigent­lich erst wirk­lich mensch­lich macht.

Einfache Grundtechniken der Kunst

Um die eigene Schaf­fens­kraft zu befreien, schwört Cameron auf zwei Grundtechniken:

  1. Die „Mor­gen­seiten“, die ange­hende Künstler täg­lich zu schreiben haben: genau 3 hand­ge­schrie­bene DIN A4 Blätter voll mit allem, was einem gerade durch den Kopf geht. Dabei darf der Stift nicht abge­setzt werden, Nach­denken und ins Reine schreiben sind ver­boten. Viel­mehr soll man sich alle Emo­tionen von der Seele schreiben, die der Krea­ti­vität im Wege stehen. Auf dem Blatt sind sie zwar nicht ver­schwunden, aber es fällt leichter, von ihnen Abstand zu nehmen.
  2. Die „Künst­ler­ver­ab­re­dungen“: Man geht einmal pro Woche alleine aus oder beschäf­tigt sich auch daheim mit etwas Inter­es­santem, etwas das man sich sonst nicht gönnt und Spaß bereitet. Dies soll die eigene Inspi­ra­tion för­dern, denn – so Cameron – nur ein zufrie­dener Mensch kann Ideen pro­du­zieren und verwirklichen.

Tageskarten ziehen macht auch dich zum Künstler oder zur Künstlerin

Auch wenn ich selbst nicht wirk­lich von diesen Anwei­sungen über­zeugt bin, haben sie auch mich inspi­riert. Als ich die Mor­gen­an­wei­sung las, kam mir näm­lich das Ziehen von Tages­karten in den Sinn, das (nicht nur) am Anfang vieler Tarot­aus­bil­dungen steht. Dieses Mor­gen­ri­tual dient zwar nicht unbe­dingt zum „Dampf­ab­lassen“, aber zur Schu­lung der Intui­tion und Aus­drucks­kraft beim Kartenlegen.

Wie wäre es, dachte ich, Came­rons Ver­ab­re­dung mit dem Künstler in ein Lege­sy­stem umzu­wan­deln, das bei der Umset­zung per­sön­li­cher künst­le­ri­scher Ambi­tionen – egal ob der berühmte schlum­mernde Roman, das abstrakte Gemälde oder die Rolle des eigenen Lebens – unter­stüt­zend ein­ge­setzt werden kann?
Gesagt, getan. Es ent­stand die Legung

Legesystem Rendezvous mit meinem Künstler

Das System basiert auf der Karte „Der Magier“ in der Ver­sion von Arthur E. Waite und Pamela Colman Smith. Tra­di­tio­nell gilt dieser dem Merkur zuge­ord­nete Trumpf als Aufruf zum Selbst­aus­druck und kann daher gut als Signi­fi­kator für den „inneren Künstler“ fun­gieren. Die Posi­tionen leiten sich aus den auf dieser Karte dar­ge­stellten Sym­bolen der 5 Ele­mente ab:

Karte stammt aus dem “Bor­der­less RWS Tarot” (public domain)

1. Zau­ber­stab (Höheres Selbst): Was in mir sehnt sich nach Aus­druck?
2. Münze (Erde): In wel­cher Form möchte sich mein per­sön­li­ches Kunst­werk mani­fe­stieren?
3. Kelch (Wasser): Welche emo­tio­nale Hal­tung nehme ich ein, um den künst­le­ri­schen Pro­zess in Fluss zu bringen?
4. Schwert Luft): Welche Hin­ter­grund­in­for­ma­tion unter­stützt mich bei der Arbeit?
5. Stab (Feuer): Wie beginne ich mit dem Projekt?

Als bald darauf meine Freundin Hedda dar­über klagte, sie wäre auch gern „so kreativ wie ich,“ bot sich eine her­vor­ra­gende Gele­gen­heit, mit der neuen Aus­lage zu expe­ri­men­tieren. Ich drückte ihr ein Waite-Smith-Deck in die Hand und bat sie ohne groß nach­zu­denken ein­fach 5 Karten zu ziehen – mit fol­gendem Ergebnis:

Pra­xis­bei­spiel zur Legung “Ren­dez­vous mit meinem Künstler” mit dem RWS Tarot (© Königs­furt-Urania Verlag)

Eine Beispielsinterpretation

Dem Ansatz Julia Came­rons fol­gend, dass intel­lek­tu­elle Tätig­keit den Beginn künst­le­ri­schen Selbst­aus­drucks im Keim ersticken kann, beschloss ich, mich aus der Inter­pre­ta­tion her­aus­zu­halten und die Nicht-Taro­ti­stin Hedda ihre Ant­wort selbst finden zu lassen.

Mässig­keit,“ las sie laut vor, wäh­rend sie den Engel mit den roten Flü­geln auf Trumpf XIV betrach­tete. „Na, das klingt aber ganz schön nach Mit­telmaß,“ fuhr sie fort – ent­täuscht. „Ich soll meine Mit­tel­mä­ßig­keit zu Worte kommen lassen? Wen inter­es­siert denn so etwas?“ „Naja“, wandte ich trotz meiner guten Schwei­ge­vor­sätze ein, „immerhin ist da ein ziem­lich impo­santer Engel drauf abge­bildet – viel­leicht möchte der doch eher zu Worte kommen? Gibt es zur­zeit etwas in deinem Leben, was mit Mäßi­gung oder Maß­halten zu tun hat?“

Hedda wurde rot. „Hm,“ grum­melte sie, „letzte Woche hat mir mein Arzt gesagt, dass ich unbe­dingt abnehmen muss. Aber das kann ja nicht gemeint sein, oder?“ „Auf den ersten Blick hat das tat­säch­lich nicht viel mit Selbst­aus­druck zu tun, ande­rer­seits reprä­sen­tiert der Engel auch den See­len­führer oder Schutz­engel und möchte sich viel­leicht auf diese Art Gehör ver­schaffen. Schließ­lich hat schöp­fe­ri­scher Selbst­aus­druck sehr viel damit zu tun, wie wir uns fühlen. ‚Bal­last’ abzu­werfen könnte also ein erster Schritt zur Krea­ti­vität sein.“

Hedda war dieser Inter­pre­ta­tion erst einmal nicht abge­neigt. Wir wandten uns daher den wei­teren Karten zu. Beim Ass der Kelche als „Form gebende“ Karte des Pro­jekts kam ihr sofort ihre Liebe zur Oper in den Sinn. „Der sieht aus wie der Gral in Par­zival,“ meinte sie. Konnte Gesang ihr viel­leicht mehr Selbst­aus­druck ver­leihen? In der Tat hatte sie schon oft mit dem Gedanken an Gesangs­un­ter­richt gespielt, aber sich nie getraut, weil sie ungern aus­ge­lacht werden wollte.

Die 10 Schwerter als emo­tio­naler Rat­schlag machten ihr und mir aller­dings deut­lich, dass solche Gedanken nicht gerade hilf­reich, son­dern eher schäd­lich wären. So würde sie nie den „Klang­strom“ errei­chen, der alle 3 bisher gezo­genen Karten wie ein Leit­motiv durch­floss. Bezüg­lich der nütz­li­chen Hin­ter­grund­in­for­ma­tion kam Hedda beim Anblick der 5 Stäbe sofort der Aus­tausch oder Wett­streit mit anderen in den Sinn. Sollte sie end­lich mal die Auf­nah­me­prü­fung in einem Chor wagen, dem sie sich sehr gern anschließen würde? Was aber, wenn sie abge­lehnt werden würde? Ein Gedanke, der ihr beim betrachten der 5 Schwerter – die Karte des Beginns – sofort durch den Kopf schoss. „Der kuckt so fies!,“ meinte sie, „man wird mich auslachen.“

Und wenn schon,“ ermu­tigte ich sie, „auf der Karte sieht man doch deut­lich, dass der, der ver­spottet wird, am Ende der ist, der Trost erfährt. Und – in der 5 wie auch in der 10 Schwerter geht es sehr oft darum, Gedan­ken­man­tren abzu­legen, die uns in einer Ange­le­gen­heit hin­der­lich sind. Ein­fach einen Neu­an­lauf machen ist oft eine gute Taktik.“ Bald darauf musste Hedda auf­bre­chen, offen­sicht­lich nicht wirk­lich über­zeugt. Aber die Bilder vom „mäßi­genden Engel“ und dem über­flie­ßenden Stimm-Gral ließen sie nicht mehr los. Einige Wochen später über­wand sie ihre Angst und stellte sich der Gesangs­prü­fung… Das ist nun schon länger her. Jetzt tritt sie gerade im Weih­nachts­ora­to­rium auf. 15 Kilo leichter als früher.  Und sie singt wie ein Engel.

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