Dieser Beitrag entstammt einem Artikel, den ich für die Fachzeitschrift Meridian geschrieben habe. Einige der damals genutzten Quellen sind nicht mehr im Netz vorhanden.
Seit seiner Entdeckung 1977 hat Chiron in der Astrologie eine erstaunlich schnelle Karriere hingelegt. Kaum war der erste „Kentaur-Asteroid“ zwischen Saturn und Uranus gefunden, da schien sich die Deutung festzementiert: Chiron = der „verwundete Heiler“. Das Bild ist eingängig, stammt aus der Mythologie, und viele Horoskopdeutungen knüpfen bis heute daran an. Doch was, wenn diese Formel zu kurz greift?
Die amerikanische Astrologin Candy Hillenbrand stellt in ihrem Essay The Centaur Connection fest, dass die durch Chiron markierte Stelle im Horoskop zwar Verletzungen anzeigen kann, aber eben nicht immer. Für viele Menschen – mich eingeschlossen – passt der Archetyp nicht. Meine Sonne steht auf 26°30’ Fische, Chiron auf 25°40’ Fische, und dennoch finde ich mich in den gängigen Stichworten wie „nicht heilbarer Schmerz“ nicht wieder. Hillenbrand regt an, den Deutungshorizont zu erweitern, statt sich auf eine einzige Lesart festzulegen.
Auch Petra Niehaus argumentiert in ihrem Aufsatz Astrologie, Mythologie und Chiron, dass der verwundete Heiler auf einer Fehlinterpretation des Mythos beruht. Chiron wurde nicht mit einer Wunde geboren, und seine Verletzung – ein zufälliger Pfeilschuss des Herakles – stand in keinem Zusammenhang zu seiner Tätigkeit als Lehrer und Heiler. Im Gegenteil: Er hörte nach der Verwundung auf zu heilen. Niehaus plädiert dafür, Chiron stärker mit dem Thema Sterblichkeit zu verbinden: Im Horoskop markiert er oft den Punkt, an dem alte Werte, Rollen oder Beziehungen „sterben“ müssen, damit ein neues Selbstverständnis entstehen kann.
Christopher Weidner wundert sich, wie schnell sich die astrologische Szene nach der Entdeckung Chirons auf eine feste Deutung eingeschossen hat. Er betont, dass bei neuen Himmelskörpern nicht der Name allein, sondern der historische Moment ihrer Entdeckung und das Entdeckungshoroskop wichtige Schlüssel liefern. 1977 war geprägt von Umbrüchen und Krisen: Ölkrise, Harrisburg, Punk als Protestbewegung, wachsende Umweltinitiativen. Für Weidner spiegelt Chiron so auch radikale Formen des Protests und das Sichtbarwerden kollektiver Wunden im Namen des Fortschritts.
Hillenbrand ergänzt diesen Blick durch das Konzept des amerikanischen Psychologen Ken Wilber: das „kentaurische Bewusstsein“. In diesem Modell verschmelzen Körper und Geist zu einer Einheit, und genau hier sieht Hillenbrand Chirons Rolle im Horoskop – als Prüfstein für Integration, Selbsterkenntnis und Lebenssinn. Weidner wiederum versteht ihn als „Puffer“ zwischen Saturn und Uranus, der das Bewährte bewahren und gleichzeitig kreativ Neues zulassen kann.
All diese Sichtweisen – Niehaus’ Fokus auf Sterblichkeit und Neubeginn, Weidners Betonung von Kontext und Brückenfunktion, Hillenbrands Erweiterung auf Integration und Freiheit – öffnen die Tür zu einer reicheren, vielseitigeren Chiron-Deutung. Für mich persönlich ist die bewusste Entkoppelung von „Wunde“, „Heiler“ und „Unheilbar“ eine Befreiung. Chiron kann genauso gut ein Lehrer sein, ein Wegweiser, ein Transformator – und vielleicht der Punkt im Horoskop, an dem wir lernen, uns bewusst dem Leben zu stellen, selbst auf die Gefahr hin, verwundet zu werden.
Literaturtipps
- Barbara Hand Clow: Chiron — Regenbogenbrücke zwischen inneren und äußeren Planeten
- Melanie Reinhart: Chiron and the Healing Journey
- Petra Niehaus (Hrsg.): Sternenlichter Astrokalender 2001 – Schwerpunkt Chiron
- Reinhardt Stiehle (Hrsg.): Rätsel Chiron
- Christopher Weidner: Arbeitsbuch zur Astrologie
Video-Tipp

🎥 Chiron — Botschafter aus dem Jenseits- Kirstens Live Chat mit Thomas Wolter