Last Updated on 29. Oktober 2023 by Tarotwissen
Besonders in Sachen Beziehungen ist Tarottrumpf VI, heute als Die Liebenden bekannt — für viele Tarotenthusiasten die Karte aller Karten. Das vermeintliche Versprechen, die Traumbeziehung sei nun zum Greifen nahe, lässt so manches hoffnungsfrohe Herz höher schlagen und zu so hehren Schlagworten wie „vom Schicksal bestimmt“, „karmische Seelenpartner“ oder „Zwillingsflamme“ greifen. Kurz — die Karte wird gern als Beweis dafür gesehen, dass endlich die EINE GROSSE WAHRE LIEBE ins Leben getreten ist, unzerstörbar und auf ewig während. Ein wirklich paradiesischer Gedanke.
Dabei ist diese Karte keineGarantie für ewiges Glück, sondern die Aufforderung, eine Entscheidung zu treffen. Denn taucht Trumpf VI in einer Legung auf — egal ob es nun um Liebe, Karriere oder andere derzeit aktuelle Lebensthemen geht — stehst du vor Fragen wie: Flirte ich weiter oder binde ich mich? Genieße ich noch eine Weile pflichtenfrei oder übernehme ich Verantwortung? Wohin zieht mich mein Herz wirklich?
Die Karte drückt einen Zustand der Verunsicherung und des Zweifels aus, was durch die astrologische Verbindung mit den Zwillingen unterstrichen wird. Wenig verwunderlich, denn vor welche Alternativen uns Die Liebenden auch immer stellen — die Auswahl wird von nachhaltiger Wirkung sein.
Dennoch ist es eine der wesentlichen Aufgaben der Karte, nicht immerdar — so herrlich das auch sein mag — weltentrückt auf rosa Wolken zu schweben, sondern letztendlich den Mut zu finden auf den harten Boden der Tatsachen zu fallen. Auch wenn das heißt, etwas aus der Vielzahl der gegebenen Möglichkeiten zurück lassen zu müssen: So kann es gelten, sich zwischen zwei Menschen zu entscheiden oder von den Annehmlichkeiten des Single-Dasein Abschied zu nehmen. Vielleicht ist nun aber auch die Entscheidung zwischen zwei Karrierewegen fällig.
Entweder kannst du einen Schritt ins unsichere Abenteuer wagen — hin zum Wagen und der Suche nach der eigenen Identität — oder dich weiter in der Sicherheit vorgegebener Strukturen — im Reich der Herrscher und Hierophanten, dem Vatergesetzt und der Lehrerdoktrin — wiegen. Dass Trumpf VI eher eine Karte der Unentschiedenheit als der erfüllten Liebe ist, lässt sich auch an den sehr unterschiedlichen Darstellungen der Karte in den diversen Epochen der Tarotgeschichte belegen. Alle zeugen sie von Romantik, jedoch nie von Perfektion.
Wo die Liebe hinfällt…
In den ersten uns erhaltenen Decks aus der italienischen Tradition — wie im Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen Visconti-Tarot — wird der Trumpf stets einfach „Liebe” genannt und allegorisch umgesetzt: eine höfische Vereinigungszeremonie über die der geflügelten Liebesgott Cupid präsidiert. Die Hände des Paares berühren sich bereits.
Wir befinden uns also im hoch kritischen Moment des „Ja“-Worts. Das Happy End steht kurz bevor. Doch halt — die Augen des bekanntlich kapriziösen kleinen Himmelsknabens sind verbunden. Ein Hinweis darauf, dass Liebe blind und somit nicht unbedingt vernünftig macht? Die hier dargestellte immanente Entscheidung ist somit keineswegs als Garant für Glück auf lange Frist zu sehen
Die Liebenden aus dem wunderschönen Visconti-Sforza-Tarot. Eine Neuauflage des Decks kannst du bei Königsfurt-Urania vorbestellen.
Von Fleisches Lust und Tugendfreuden
Im Marseiller Tarot und seinen Varianten, die die französische Tradition Mitte des 18. Jahrhunderts begründeten, hat sich dem Visconti-Liebespaar eine weitere Dame hinzugesellt. Aus der Liebe sind die „Liebenden“ geworden. Eine reichlich unangenehme Veränderung für den Herren in der Mitte: Soll er die junge Frau wählen, deren gelöstes Haar erotische Freuden verspricht oder lieber die reifere, züchtige Dame, die ihm ruhige, platonische Zufriedenheit sichern könnte?
Cupid, der wieder über der Szene schwebt, gibt mit seinem Pfeil schon mal die Richtung vor… Diese Trumpf-Version, auch bekannt als „Der Scheideweg” oder „Die Entscheidung“, rückt den Aspekt des Zwiespalts, in dem wir uns beim Auftauchen dieser Karte in einer Legung befinden, klar in den Vordergrund — für welche Dame wir uns auch entscheiden, die andere müssen wir dafür hinter uns lassen. Dass die junge Frau gewöhnlich als Symbol für das Laster, die ältere als Symbol für die Tugend interpretiert wird, bringt außerdem das Thema Versuchung mit ins Spiel.
Die Liebenden — Paradiesische Verführung
Auch Waite nennt seine um 1900 entstandene, heute wohl bekannteste Version des Trumpfes Die Liebenden, doch lässt er die Marseiller Nebenbuhlerin ebenso aus seiner paradiesischen Szene verschwinden wie Adam dereinst Lilith, seine erste Frau. Alten Legenden nach fand diese jedoch wieder durch die Hintertür zurück in den Garten Eden als sich ihr einstiger Gatte schon mit seiner neuen Flamme Eva vergnügte. Und so ist es kein Wunder, dass selbst in der hier entworfenen Idylle zweier durch Liebe zueinander gesogener Menschen Zwist und Unglück in Form der verführerischen Schlange am Kartenrand lauern.
Auch der von der Putte zum Erzengel transmutierte Gott der Liebe kann da nur noch stille hoffend segnen. Er ahnt genau wie wir, dass der Sündenfall und irdische Laster (vergleiche die Ähnlichkeit der Darstellung des „Teufels“ im selben Deck) nur noch einen Apfelbiss entfernt sind.
Warum aber genau dieser appetitliche Happen so notwendig ist, erläutert Waite selbst in seinem „Key To The Tarot“: „Durch den ihr (der Frau) zur Last gelegten Fehltritt wird der Mensch letztendlich auferstehen, und nur durch sie kann er sich selbst vervollkommnen.“ Es ehrt Waite sehr, dass er nicht dem weiblichen Geschlecht den schwarzen Peter für die Vertreibung aus Eden zuschiebt.
Die Liebenden in der Version von A. Waite und P. Smith, Borderless RWS, public domain
Missglücktes Experiment
Zu Aleister Crowleys symbolschwangerer Alchemischer Hochzeit aus den 1940ern sind Adams Frauen ebenfalls als Statuen oben im Bild geladen. Dass Lilith gleich einer 13. Fee bei der hier dargestellten Zeremonie der Vereinigung von Gegensätzen — repräsentiert durch die Trauung von Kaiserin (Trumpf III) und Kaiser (Trumpf IV) — nicht integriert wird, ist sogar Auslöser für das vorläufige Fehlschlagen dieses Experiments. Es wird erst vollständig in Trumpf XIV, der „Kunst“ gelingen.
Eine weitere Warnung, sich vor dem „Ja“ mit den eigenen Schatten auseinander zu setzen und darauf vorbereitet zu sein, dass der Beziehungsalltag nicht immer ein rauschendes Fest sein wird. Dessen ungeachtet ist auch diese Interpretation der „Liebenden“ eine hoch romantische Darstellung des Eheversprechens, erneut bezeugt vom jugendlichen Cupid, dem sich der weise Eremit (Trumpf IX) segnend hinzugesellt.
Die Hochzeitsnacht
Die Version der Liebenden, die der Künstler Carl W. Röhrig in seinem in den 1980ern entstandenem Tarot-Deck präsentiert, setzt die Ideen Crowleys und Waites fort: Ein schlafendes Paar wie du und ich. Die Trauung ist hier bereits vollzogen. Kaiserin und Kaiser haben ihre Ehe bekräftigt, Adam hat seine Eva erkannt. Und obwohl ein Riss das Bild in zwei Hälften spaltet, wirkt das Szenario zärtlich und verbindlich.
Mann und Frau haben sich hier aufeinander eingelassen und sich gemeinsam in Erotik und Sex verloren. Aus Gegensätzen sind Gleichberechtigung und Ausgewogenheit geworden. Das männliche und weibliche Prinzip begegnen sich ungeschminkt und im Taumel der Verliebtheit. Unklar bleibt allerdings, ob sich die beiden auch bei Morgenanbruch mit Sternenaugen betrachten oder ob es ein ernüchterndes Erwachen gibt.
Wo immer dich die Liebe letztendlich hinträgt — die vielen Gesichter des Trumpfes VI ermahnen dich, dir der Konsequenzen unserer Herzensentscheidungen bewusst zu sein. Dabei unterstützen dich all die Menschen, denen du im Laufe deines Lebens begegnen. Ob Partner, Familie, Feinde, Freunde, Rivalen, Kollegen — all die Erfahrungen mit ihnen, gute wie auch schlechte, brauchst du, um mündige und selbstbewusste Individuen zu werden. Diese Erkenntnis und die daraus resultierende Dankbarkeit auch für unangenehme Begegnungen sind notwendig, um den Schritt über die Schwelle des Paradieses lieber selbst zu wagen anstatt unerwartet und unsanft vor die Tür gesetzt zu werden.
Mehr über Die Liebenden erfährst du in diesem Video, eine Koopertion der Geheimnisakademie und der Mantiker. Und hier findest du eine Legung zum Thema.