Der Röhrig Tarot – Karten für das neue Millennium

Diesen Artikel habe ich 2002 ver­fasst. Ich ver­öf­fent­liche ihn hier nur leicht überarbeitet.

Auf den ersten Blick begei­stert der Tarot des Künst­lers Carl‑W. Röhrig sicher nicht alle Tarot­be­ses­senen und Kar­ten­sammler: Die Karten haben misch-unfreund­liche 90 x 165 mm und eine Rück­seite, die die Arbeit mit umge­drehten Bedeu­tungen nicht zulässt. Und obwohl Röh­rigs beein­druckende Vision und Fer­tig­keit zwei­fels­ohne jede seiner Karten zu einem kleinen Kunst­werk machen – sein eigen­wil­liger Stil könnte irri­tieren. „Kit­schig“ beschreibt es nicht wirk­lich, und auch „bizarre Mischung aus (post)modern und tra­di­tio­nell“ kann nur eine unge­fähre Vor­stel­lung ver­mit­teln. Viel­leicht trifft der reich­lich über­stra­pa­zierte „magi­sche Rea­lismus“ am ehe­sten in Schwarze. Auf jeden Fall ist er stark geprägt vom Stil und Lebens­ge­fühl der 80er Jahre. Und Röhrig hat eine offen­sicht­liche Vor­liebe für leicht geschürzte Damen, die seinen Tarot-Inter­pre­ta­tionen eine sehr ero­ti­sche Note ver­leiht. Doch die durch­zieht des Künst­lers gesamtes ein­drucks­volles Schaffen.

Egal, wie du zur Ästhetik des Decks stehst: Ein Bei­sei­te­legen der Karten nach ober­fläch­li­chem Betrachten wäre schade. Denn Röh­rigs Bil­dern man­gelt es wahr­lich nicht an Ori­gi­na­lität, sie strotzen gera­dezu von Ein­falls­reichtum und ein­dring­li­cher Bil­der­ge­walt. Dabei ent­springen die Motive keiner gegen­warts­fernen Fan­ta­sie­welt, lukra­tiven Gim­mick­idee oder markt­ver­träg­li­chen Klonen der tra­di­tio­nellen Decks, wie wir es von vielen anderen Tarot­spielen des aus­ge­henden 20. Jahr­hun­derts her kennen. Viel­mehr lassen sich die Bil­der­themen der Trümpfe und Sätze sehr leicht auf all­täg­liche Situa­tionen, Gefühls­zu­stände und Begeg­nungen beziehen. Dabei umgibt sie jedoch stets gewisse geheim­nis­volle Etwas, dass die Beschäf­ti­gung mit Tarot so span­nend macht.

Der Wagen bei Waite-Smith und Röhrig im Ver­gleich. Karten © www.koenigsfurt-urania.com

Per­sön­lich und kol­lektiv zugleich – so spre­chen die Karten auch sofort zu Men­schen, die noch wenig oder gar keine Erfah­rung mit dem Tarot haben. Gerade in der Bera­tungs­praxis hat sich für mich gezeigt, wie leicht sich Men­schen mit der Bil­der­welt iden­ti­fi­zieren können. Schließ­lich wird Otto­nor­mal­ver­brau­cher die Bot­schaft „Alles auf Sieg“ viel eher durch die Dar­stel­lung eines in den Start­lö­chern schar­renden Renn­wa­gens ver­deut­licht werden als durch das Abbild eines alter­tüm­lich geklei­deten Jung­spunds, der – siehe Waite-Smith Trumpf VII, Der Wagen – unter dem Bal­da­chin eines von Sphinxen gezo­genen Wagens posiert.

Ein Renn­wagen! Das mag für manche etwas seicht klingen. Aber weit gefehlt – denn bei aller gewagter Moder­nität ver­nach­läs­sigt Röhrig nie die tief­grün­digen und zeit­losen Arche­typen, die der Tarot so unver­gleich­lich wider­spie­geln kann. Der Künstler weiß genau, was er tut. Es ist augen­schein­lich, dass er nicht nur hoch­gradig an spi­ri­tu­eller mensch­li­cher Ent­wick­lung inter­es­siert ist, son­dern sich zum Thema Tarot auch ordent­lich schlau gemacht. Sein Deck ist keine der zahl­rei­chen Kopien eines eta­blierten Klas­si­kers, dem der Her­aus­geber einige nette Eso-Spie­le­reien zuge­setzt oder auf die vor­han­denen oder erfun­denen Bedürf­nisse irgend­einer Rand­gruppe zuge­schnitten hat. Die zahl­rei­chen, ein­gän­gigen Stich­wörter und Schlüs­sel­sätze, mit denen jede Karte ver­sehen ist, z. Bsp. basieren ein­deutig auf den bekannten Stan­dards Tarot de Mar­seille, Waite-Smith und Crowley-Harris. Auch hilf­reiche Bild­zi­tate aus den genannten drei „Stan­dard­decks“ finden sich lie­be­voll skiz­ziert auf vielen Karten. Den bekannten astro­lo­gi­sche Zei­chen setzt Röhrig — wohl beein­flusst von Herr­mann Haindls Tarot­bil­dern ‑außerdem noch Runen und kab­ba­li­sti­sche Ent­spre­chungen hinzu. So ent­steht ein viel­schich­tiges Sym­bol­netz­werk, das reich­lich Stoff zum Nach­denken bietet.

Die Viel­schich­tig­keit des Röhrig-Decks möchte ich nun mit vier Karten erläu­tern. Das Copy­right der Karten liegt beim Aqua­marin Verlag und Königsfurt-Urania.

Drei der Schwerter

© Aqua­marin und Königsfurt-Urania

Ver­loren und einsam findet sich ein graues Schat­ten­männ­chen mit hän­genden Schul­tern in erdrü­gender, trost­loser Umge­bung. Vor ihm ein rie­siges, ver­ram­meltes Steintor, in das oben drei Schwerter geritzt sind. Das Gemäuer ist mit Graf­fiti-Schlag­worten wie „Kummer“, „Zweifel“ und „Unklar­heit“ über­zogen. Und auch ohne diese Hil­fe­stel­lung drängen sich sofort Begriffe wie „aus­ge­schlossen sein“, „Ein­sam­keit“, „Aus­gren­zung“ auf. Klarer Fall, die Karte spie­gelt eine men­tale Not­lage wieder. Wirk­lich, wer diese Karte zieht, befindet sich erfah­rungs­gemäß in einer Phase, in der gerade eine große Ent­täu­schung ver­ar­beitet werden muss. Dabei kann dann oft das Gefühl ent­stehen, dass das Leben hinter dem ver­schlos­senen Tor tobt und man der ein­zige Mensch in der weiten Welt ist, der nicht beim Spaß dabei sein soll. Ver­ständ­li­cher Kummer, aber wirk­lich not­wendig? Viel­leicht würde es ja schon genügen, sich auf irgend­eine Weise bemerkbar zu machen, um sich wieder von der Umwelt akzep­tiert und in ihr geborgen zu fühlen.

Ritter der Kelche

© Aqua­marin und Königsfurt-Urania

Ein Mann, dessen Anblick Frau­en­herzen höher schlagen lässt. Das klas­sisch-eben­mä­ßige Profil gen Westen gerichtet – Rich­tung der Pro­gres­si­vität und Ent­schluss­kraft. Ein bunter Regen­bogen von herz­er­wär­menden Schlag­worten spru­delt vor ihm auf: „Fähig­keit zu geben”, „Hin­gabe an geliebte Men­schen“, „Zugang zu höheren emo­tio­nalen Ebenen“, und und und. Aber ent­stammten diese Worte wirk­lich dem Denken des Kel­che­mannes, der ja nicht umsonst gern auch mal mit Schwa­nen­ritter Lohen­grin ver­gli­chen wird? Oder ist hier der Wunsch der Betrach­terin (oder natür­lich auch des ver­liebten Betrach­ters) Mutter des Gedanken? Schließ­lich ist nur die rote Rose im unteren Teil des Bildes wirk­lich rea­li­stisch dar­ge­stellt . Das Profil des schönen Men­schen hin­gegen wirkt bei näherem Hin­sehen reich­lich künst­lich, nahezu sta­tu­en­haft. Ist er über­haupt aus Fleisch und Blut oder doch nur ein unwirk­li­cher Mär­chen­prinz? Eine Karte, die oft von frisch Ver­liebten gezogen wird, wenn es darum geht, ob der neue Traum­mann das Poten­tial zu tat­säch­li­chen Partner hat.
Mehr zu diesem Dre­amboy auch in diesem Artikel hier.

Königin der Stäbe

© Aqua­marin und Königsfurt-Urania

Ist das Objekt der Begierde weib­lich, kann es durchaus sein, dass der/die Klient/in die Königin der Stäbe stell­ver­tre­tend für die neue Anzie­hung aus dem Packen zieht. Eine Frau, die Lei­den­schaft ver­strömt wie Moschus. Blutrot und Schar­lach domi­nieren die Karte und umschmei­cheln das Gesicht einer bild­schönen Frau, die uns mit einem rechten wil­lens­starken Wild­kat­zen­auge fixiert wie die Schlange das Kanin­chen. Wer ist hier bereit zum Sprung? Klar scheint: diese Frau bekommt, was sie haben will. Und kann nebenbei noch helfen, „Sym­pa­thie“, „Selbst­er­kenntnis“ und „Ver­än­de­rung“ in das Leben des Fragenden/ der Befragten zu ziehen.

 

 

Der Narr

© Aqua­marin und Königsfurt-Urania

Das andro­gyne Gesicht eines Narren domi­niert die Karte. Die rechte männ­liche Gesichts­hälfte ist von einer leben­digen Kappe gekrönt – ein Kro­kodil, das einen Tiger ver­schlingt. Die weib­liche linke Hälfte ist von einem fede­rigen Hut geschmückt. Ein viel­deu­tiges Lächeln umspielt die Lippen dieser selt­samen Gestalt. Aus­druck eines selbst­ver­ges­senen Über­schwangs oder wird hier viel­leicht gerade eine Eulen­spie­gelei ausgeheckt?
Eine zer­ris­sene Notiz, auf der sich ein Lie­bes­paar sich auf einem Kro­kodil ver­gnügt, bedeckt den unteren Teil der Karte. Das selt­same Geschehen wird von einem Schmet­ter­ling und einer Taube beob­achtet. Doch auch die Schlage nähert sich bereits – der Fall ist vorprogrammiert.

Gerade diese letzte Karte zeigt her­vor­ra­gend, wie aus­ge­zeichnet es Röhrig ver­steht, mit seinen Bil­dern ver­schie­dene Ver­ständ­nis­ebenen anzu­spre­chen. Der Narr hin­ter­lässt sofort einen tiefen Ein­druck auf seine/n Betrachter/in, ohne sich leicht­fertig auf eine ein­zige mög­liche Inter­pre­ta­tion fest­zu­legen. Es ist gerade diese Ambi­va­lenz, die uns tiefer in das Bild zieht, uns dazu anspornt, die Karte völlig zu begreifen und mit per­sön­li­chen Bedeu­tungen zu belegen. Plötz­lich stellt man fest, dass man sich schon in der Medi­ta­tion befindet. Was genau soll diese merk­wür­dige Skizze unten auf der Karte bedeuten? „Der Narr und das ver­lo­rene Para­dies”, „Die Welt und das wie­der­ge­fun­dene Para­dies” – sind Schlag­worte, die sich mir auf­drängen. Hier wie sonst ver­bindet Röhrig in genialer Weise Anfang und Ende der großen Arkana. Und das ebenso logisch und fein­fühlig, wie er Tra­di­tion und Moderne zusammenbringt.

Der Narr von Röhrig, inter­pre­tiert für Kir­sten und S ROE Buch­holzer von El Fan­tadu (Bernd Kreuzer)

Für mich stellt Röh­rigs Tarot schon lange das Deck des neuen Mill­en­niums dar. Dabei ver­gleiche ich es gern mit einem meiner Lieb­lings­filme, mit Moulin Rouge: ob man solch grelle, über­drehte Bilder mag oder nicht, es kann nicht abge­stritten werden, dass Deck wie Film alt­her­ge­brachte Mythen auf­greifen, sie respektlos und lie­be­voll zugleich umstülpen, und so ver­al­tete Denk­mu­ster für unsere wilden, unvor­her­seh­baren Zeiten auf den neue­sten Stand bringen. Der Röhrig-Tarot hat für mich auch noch eine ganz per­sön­liche Bedeu­tung. Dank ihm bin ich auf der ersten Mit­glie­der­ver­samm­lung des Tarot e.V. 2004 das erste Mal mit ROE ins Gespräch gekommen. Die Idee für ein Buch zu diesem Deck war schnell geboren. Phan­ta­sti­sche Welten — Der Röhrig Tarot erblickte fast zeit­gleich mit unserem Sohn das Licht der Welt. Kurz darauf haben wir gehei­ratet — zwei Hälften haben zusammengefunden. 🙂

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