3 der Kelche — Ode an die Große Mutter

Wal­tende Herrin, Deo, Mutter des Jahres, von Gaben
Strah­lende! Wun­der­schöne Tochter Persephoneia!
Spendet gütig zum Lohn für mein Lied erfreu­ende Nahrung.
Ich aber werde deiner und anderen Sanges gedenken.“
Home­ri­sche Hymne an Demeter

Unter Kar­ten­le­gern genießt die 3 der Kelche einen aus­ge­zeich­neten Ruf: Gesel­lig­keit mit Gleich­ge­sinnten, „Hohe Zeiten“, Partys, Ern­te­dank­feiern, frucht­barer Aus­tausch, Geburt, Gemein­same Her­zens­pro­jekte – die Deu­tungs­bü­cher sind voll des Lobes für die Karte, die schon im 19. Jahr­hun­dert von der spi­ri­tu­ellen Ver­ei­ni­gung Golden Dawn mit dem Unter­titel Fülle ver­sehen wurde.

Auch für Tarot­mei­ster Arthur E. Waite kün­dete die 3 der Kelche von glück­liche Zeiten: „Der Abschluss irgend­einer Ange­le­gen­heit in Hülle und Fülle, Voll­endung und Fröh­lich­keit, glück­li­cher Aus­gang, Sieg, Erfül­lung, Wonne, Heilung,“

lauten die divin­a­to­ri­schen Bedeu­tungen in seinem Bil­der­schlüssel des Tarot. Und um diese Hoch­stim­mung im Waite-Smith Tarot umzu­setzen, gab er seiner Illu­stra­torin Pamela Coleman Smith die Vor­gabe, „Mäd­chen in einem Garten mit erho­benen Kel­chen, als ob sie ein­ander zutrinken würden“ darzustellen.

Also skiz­zierte Coleman Smith einen höchst anmu­tigen Reigen dreier Kelche schwen­kender Frauen, die deut­lich an

Die 3 Kelche aus dem RWS Bor­der­less Tarot.
© Public Domain

Sandro Bot­ti­cellis berühmtes Gemälde Pri­ma­vera erin­nern. Dort werden die drei Gra­zien, im alten Grie­chen­land auch als Cha­riten bekannt, in fast glei­cher Hal­tung wie die Tarot-Tän­ze­rinnen dar­ge­stellt. Kaum ver­wun­der­lich, stehen diese legen­dären Göt­tinnen der Anmut – gewöhn­lich Euphro­syne, Aglaja und Thalia benannt – doch für Lebens­ge­nuss, femi­nine Ästhetik und gesel­liges Bei­sam­men­sein. Daher werden sie zumeist nur äußerst leicht bekleidet und in ver­schlun­gener Berüh­rung dar­ge­stellt. Nicht nur auf Bot­ti­cellis Gemälde gehören sie dem Gefolge der Lie­bes­göttin Venus an. Auch im Tarot regiert das Große Arkanum III, Die Herr­scherin, über sämt­liche „Dreien“. Am direk­te­sten kommt dieser Zusam­men­hang sicher im gefühl­vollen Reich der Kelche zu tragen. Somit spie­gelt ganz beson­ders die Kelche-Drei die Sinn­lich­keit, Frucht­bar­keit und Natur­ver­bun­den­heit der Herr­scherin – letz­teres beson­ders durch die auf ihr üppig gedei­henden Früchte der Erde. Aller­dings ver­weisen diese nicht auf den Früh­ling, son­dern auf die Zeit des Spät­som­mers und des Erntedanks.

Ern­te­zeit – das heißt Auf­gang der Saat, die wir gesetzt haben, Bestands­auf­nahme, Abschluss eines Zyklus, Stirb und Werde. Themen, die auf eine wei­tere Deu­tungs­mög­lich­keit für die „Mäd­chen in einem Garten“ ver­weisen, die im engen Zusam­men­hang mit den Schick­sals­göt­tinnen – den römi­schen Parzen, den ger­ma­ni­schen Nornen oder grie­chi­schen Moiren – steht. Wie sie auch heißen – diese Her­rinnen unseres Geschicks werden zumeist als Spin­ne­rinnen oder Webe­rinnen dar­ge­stellt. Auf der 3 Kelche klingt dies neben der Ver­bun­den­heit in den ver­schlun­genen Armen und der tan­zenden Bewe­gung der drei Frauen an. Der Fama nach spinnt die erste Göttin den mensch­li­chen Schick­sals­faden, die zweite bemisst ihn und die dritte durch­trennt ihn schließ­lich. Gebie­terin über Leben und Tod – ein wei­terer Aspekt des Tarot­trumpfs Die Herr­scherin. Doch damit ist die Bedeu­tungs­viel­falt der Drei noch lange nicht aus­ge­schöpft. So erläu­tert Luisa Francia in Die Göttin im Federkleid:

In matri­ar­chalen Kul­turen spielt die 3 eine her­aus­ra­gende Rolle. Die Zahl 3 als Initia­ti­onsweg, als Schwelle in neue Erfah­rungen, die Sechs als Aus­gleich und Har­mo­ni­sie­rung einer Erfah­rung und dreimal die Drei – die Erfül­lung, der Zustand der Reife. Auch die Göttin wird in ihren drei Erschei­nungs­formen gesehen und dar­ge­stellt: die Junge, die Mutter, die Alte. Die Junge reprä­sen­tiert den Zustand des Blü­hens, des Ler­nens, der jugend­li­chen unbe­schwerten Kraft. Die Mutter steht für Nah­rung, Schutz, Ver­ant­wor­tung, die Frucht­bar­keit. Die Alte dagegen steht für Weis­heit, für das Über­mit­teln von Wissen, für Erfah­rungen, für Rückzug, auch für Genau­ig­keit und Strenge.“

Jung­frau, Mutter, Alte – die Gesichter der drei­fa­chen Göttin durch­ziehen auch den Tarot. Dabei ver­kör­pert der Trumpf Die Hohe­prie­sterin den Aspekt der Jung­frau, Der Mond die Weise Alte und Die Herr­scherin – neben ihrem ein­gangs beschrie­benen venus­isch-ero­ti­schen Aspekt – natür­lich die Mutter. Die ver­schlun­genen Arme der drei Tän­ze­rinnen werden so auch zum Hin­weis auf das ewige Myste­rium der Weib­lich­keit, das die Antike beson­ders gern mit der Geschichte von Demeter, Per­se­phone und Hekate zele­brierte: Als die Jung­frau Per­se­phone von Hades, dem Gott der Unter­welt, ent­führt wird, pro­te­stiert ihre Mutter Demeter, Göttin der Frucht­bar­keit, lange ver­geb­lich vor Zeus über den schän­de­ri­schen Raub. Erst als sie auf Rat der weisen Hekate den Winter erfindet, der Natur ihre Frucht­bar­keit ver­wei­gert, wird sie vom Göt­ter­vater ernst genommen und Hades muss Per­se­phone wieder her­aus­geben. Die 3 Kelche also auch eine Feier der Wie­der­ver­ei­ni­gung von Mutter, Tochter und Ahnin, Feier des Myste­riums der Weib­lich­keit? In uns selbst und um uns her?

Die Hohe­prie­sterin, die Herr­scherin, der Mond — sie stehen im Tarot für die drei­fache Göttin: Jung­frau, Mutter, Alte Weise
Karten aus dem RWS Bor­der­less Tarot, Public Domain

Der Thoth-Tarot hebt diese Inter­pre­ta­tion hervor. Alei­ster Crowley sah die 3 Kelche näm­lich als Karte der Demeter oder Per­se­phone. Die astro­lo­gi­sche Zuord­nung von Merkur, dem See­len­führer, der als einer der ganz wenigen unbe­hel­ligt in das Reich der Toten reisen darf, mit dem Krebs, Zei­chen der Mutter, beschrieb er: „Hier findet die Erfül­lung des Wil­lens (Merkur) zur Liebe (Krebs) in über­strö­mender Freude statt. Es ist die spi­ri­tu­elle Grund­lage der Fruchtbarkeit.“
Diese über­strö­mende Fülle ver­deut­lichte Frieda Harris, indem sie die pracht­vollen über­lau­fenden Kelche auf dieser Karte mit Gra­nat­äp­feln schmückte. Span­nend, dass auch Pamela Coleman Smith die Ver­bin­dung von Per­se­phone (Hohe­prie­sterin) und Demeter (Herr­scherin) durch den Gra­nat­apfel auf den Trümpfen dar­stellt. Dieses viel­schich­tige Symbol spielt wohl bei den beiden Großen wie auch bei der kleinen Arkana auf Leben und Frucht­bar­keit an. Durch die Ver­bin­dung Per­se­phones zu Hades weist der Gra­nat­apfel jedoch auch noch auf Macht und Ver­führ­bar­keit hin.

Damit wären wir bei mög­li­chen nega­tiven Bedeu­tungen der 3 Kelche ange­langt. Es ist näm­lich ein Gra­nat­apfel, von dem Hades Per­se­phone vor ihrer Rück­kehr in die Welt der Lebenden kosten lässt. Damit stellt er sicher, dass seine Braut immer wieder zu ihm zurück­kehren muss. Jaja, der berühmte Apfel­biss – hatte der nicht auch bereits in der Bibel für Pro­bleme gesorgt? „Allen guten Dingen, obwohl man sich an ihnen erfreut, sollte miss­traut werden,“ fasst Crowley seine Betrach­tungen über die pro­ble­ma­ti­sche Seite dieser Kelche-Karte zusammen. Und auch Waite betont, dass die Karte in der umge­kehrten Lage auf ein „Übermaß an kör­per­li­chem Genuss und die Freuden der Sinne“ ver­weisen kann.

In der Tat, die Waite-Smit­h­schen Ladys sind so ver­schlungen und mit sich selbst und dem Feiern beschäf­tigt, dass aus der HOCH-ZEIT schnell auch mal HOCH-MUT werden kann. Vom Kater nach dem wilden Feiern gar nicht erst zu spre­chen. Emo­tio­nale Ver­band­lungen und Grup­pen­ak­ti­vität sind gut und schön, doch kann sich so man­cher Betrachter durch die den Blick ver­sper­rende Rücken­an­sicht der vor­der­sten Tän­zerin durchaus als nicht teil­ha­bend an der Freude der Damen sehen.

Nun, auch auf der Drei der Stäbe ver­sperrt uns ein Mann im roten Mantel die Sicht. Viel­leicht ist diese Hal­tung daher eher die Auf­for­de­rung, in das Bild ein­zu­treten, anstatt in der Ecke zu schmollen? Dazu for­dern die Karten der Herr­scherin immer auf, wenn wir uns aus­ge­schlossen fühlen. Es ist eigent­lich wie in Schil­lers groß­ar­tiger Ode an die Freude:

Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund
und wer’s nie gekonnt der stehle wei­nend sich aus diesem Bund!“

Für mich reprä­sen­tiert die Drei der Kelche in Legungen neben der freu­digen Feier zumeist ein emo­tio­nales, krea­tives oder spi­ri­tu­elles Pro­jekt, das min­de­stens zwei Men­schen mit­ein­ander ver­bindet und dessen Umset­zung sehr loh­nens­wert wäre. Gleich­zeitig warnt die Karte davor, ledig­lich in Gefühlen zu schwelgen oder sich in ihnen zu ver­lieren und sie nie auf den Boden der Tat­sa­chen zu bringen.

Dies ist sehr spre­chend in meinem Lieb­lings­tarot, dem Röhrig, aus­ge­drückt:

Die 3 Kelche aus dem Röhrig-Tarot. © Aquamarin-Verlag

Alles ist hier im Fluss, die beiden bunten Kelche auf dem Felsen sym­bo­li­sieren polare Kräfte, die in gefühl­voller Syn­these und Liebe etwas völlig Neues – einen wei­teren, der­zeit noch trans­pa­renten Kelch in der Mitte des Bildes – ent­stehen lassen.

Frohes Genießen!

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