Last Updated on 10. Januar 2022 by Tarotwissen
Nicht nur für Tarot-Einsteiger, auch oft für erfahrene Interpreten nimmt sich die konkrete Aussage von Trumpf V in Legungen häufig wie ein Buch mit sieben Siegeln aus- Es ist für die meisten Menschen ebenso schwer zu entschlüsseln wie sein rätselhafter Titel „Der Hierophant“. Eigentlich nicht wirklich verwunderlich, denn dieses fürwahr Große Arkanum (lat. Geheimnis) droht damit, dich aus der materiellen Sicherheit, aus dem wohl geordneten Reich des Herrschers zu zerren, hinein in einen vibrierenden Kosmos, in dem du Eigenverantwortung übernehmen und dich von eingetrichterten Weisheiten verabschieden musst.
Das kann uns bequeme Wiederkäuer schon mal ordentlich aus dem Gleichgewicht bringen und uns auf Nicht-Verstehen einer Kartenbedeutung schalten lassen. Oder begibt du dich gern freiwillig aus gewohnten Gegebenheiten, selbst wenn diese irgendwie unbefriedigend sind? Wer lässt schon ohne Wehmut Altes und Wohlbekanntes hinter sich, um es gegen Neues und Fremdes einzutauschen und sei das auch noch so viel versprechend? Doch genau dazu drängt dich der Hierophant. Er fordert dich auf, zu deiner ganz persönlichen Gralssuche aufzubrechen. Und das ohne jede Garantie, jemals das zu finden, was du als Ziel deiner Reise ersehnst.
Der Hierophant schafft innere Unruhe und Verlustangst
Die aus dieser eigentlich doch so positiven Aufbruchsstimmung resultierende innere Unruhe, die Konfusion, die Verlustangst, die Trauer und das Chaos, mit denen sich Fragende auseinander setzen müssen, wenn sie vom Hierophanten meist unsanft wach geschupst werden, spiegelt sich hervorragend in den Kleinen Arkana wieder. (Er kann sich mit seinem Weckruf meiner Erfahrung nach phasenweise als äußerst penetrant erweisen. So zog ich zu Beginn meiner Kartenlaufbahn fast täglich diesen sich mir einfach nicht erschließenden Trumpf, bis ich kurz davor war, mein Deck aus dem Fenster zu werfen.)
Zwar wird der Trumpf selbst in der Literatur immer wieder und sicherlich auch völlig richtig mit hoffnungsfrohen Schlagworten wie „Vertrauen“, „Inspiration“, „Segnung“, „Einweihung“ und „Glauben“ in Verbindung gebracht, doch wirkt sich die Fünfer-Energie in den Zahlenkarten – die ja eher für alltägliche Ereignisse und die Auslebung der kollektiven Trumpf-Archetypen in unserem individuellen Leben stehen – durchweg düster aus. Dies zeigt bereits ein Blick auf die Untertitel (nach Golden Dawn) der Fünfer: „Enttäuschung“ (5 Kelche), „Mangel“, (5 Münzen), „Niederlage“ (5 Schwerter) sprechen wohl eine eindeutige Sprache. Selbst „Streben“ (5 Stäbe) weist auf eine ziemliche Verunsicherung des sonst so Instinkt sicheren Feuerelementes hin. Vertrauen und Glauben – gut und schön, doch die tägliche Umsetzung will eben gelernt sein.
Der Hierophant lehrt Heiliges
Ein „Hierophant“ ist wörtlich übersetzt jemand, „der Heiliges lehrt“. Als solches wurden im antiken Griechenland die Hohepriester (ein weiterer Titel dieser Karte – z.B. bei der deutschen Version des Thoth-Decks von Crowley und Harris) bezeichnet, die den Eleusinischen Mysterien, der Fruchtbarkeits-Göttin Demeter geweiht, vorstanden. Ihre Aufgabe war es, nach Erkenntnis strebende Schüler durch die verschiedenen Stufen einer anspruchsvollen Einweihung hin zur Initiation zu geleiten, ihre Seelen individuell zu schulen und zu vervollkommnen.
„Erziehung“ und „Disziplin“ sind denn auch weitere Stichwörter für diesen Trumpf. Er dient uns Menschen als spiritueller Tutor, als Guru, der oder die es versteht, im geheimnisvollen Buch seines weiblichen Gegenstücks, der Hohepriesterin, zu lesen und ihre immer währenden Wahrheiten mit männlichem Logos seinen Anhängern mundgerecht für die jeweilige Zeit zu vermitteln. Diese wichtige Funktion finden wir in zwei der so genannten klassischen Decks, dem Marseiller Tarot und dem Waites, versinnbildlicht.
Weitere Decks, die mit dem neuen Trend arbeiten sind beispielsweise das Cosmic Slumber Tarot oder das Mystische Tarot von Cathrin Welz-Stein. Einige von diesen Decks kannst du in meinen Unboxing-Videos auf YouTube kennenlernen.
Auf dem Trumof V sind zum ersten Mal in der Reihe der Großen Arkana (nach den Trümpfen Magier, Hohepriesterin, Herrscherin, Herrscher) mehr als eine Person auf der Karte zu erkennen: In den traditionellen Interpretationen sind dem Papst (Marseille), respektive dem Hierophanten (Waite-Smith) zwei Schüler unterstellt, denen der Geistliche Trost spendet und mysteriöse Nachrichten aus höheren Sphären (bei Waite, der in seinem Deck ein äußerst positives Bild dieses religiösen Oberhauptes entwirft, sehr schön dargestellt durch die gen Himmel gerichteten Arme, die segnende Geste wie auch die zwei geheimnisvollen Schlüssel zu seinen Füßen) übermittelt und übersetzt.
Der Hierophant ist ein Kompass deiner Ethik
Für diese Fähigkeit und ihre ethisch korrekte Anwendung verdient der Pontifex (lat. Brückenbauer) hohe Anerkennung. So sind denn auch seine Schüler als ihm hierarchisch untergeordnet, in anbetender Haltung dargestellt. Doch muss der Hierophant uns immer im Außen begegnen? Kann er nicht vielmehr auch eine innerer geheime Stimme sein, die uns unsere ganz persönlichen Wahrheiten, die mit dem Kollektiv nicht immer konform gehen müssen, erkennen lässt?
Vielleicht verleitete eben diese Tatsache, dass eine geführte Sinnsuche damals wie heute einfach Raum für die völlig unterschiedlichen Entwicklungswege eines jeden Menschen lassen sollte, den französischen Okkultisten Court de Gébelin im vorrevolutionären Paris dazu, Trumpf V diesen eher unbekannten und daher unbelasteten Titel zuzuordnen. Denn vorher war die Karte zumeist unter dem für unsere Breitengrade doch reichlich stigmatisierten Begriff „Papst“ bekannt gewesen – jene überdimensionale Vaterfiguren (Papst von Pater = Vater), dessen unabänderlichen Lehren und Gesetzen sich das Individuum zum Wohle des Kollektives spirituell unterzuordnen hat.
Die dunkle Seite der Macht
Hier genau erkennen wir die Schattenseite und den Fallstrick des spirituellen Lehrmeisters: Dogma gepaart mit Hochmut – eine Kombination, die jede auch noch so viel versprechende religiöse Organisation (ob die Kirche des Ancienne Regime, heutige Sekten oder sicher auch die Eleusinischen Mysterien) im Laufe der Zeit versteinert, aushöhlt und korrumpiert. Wie so ein spiritueller Verfall aussehen kann, erahnen wir, wenn wir Crowleys Hohepriester eingehend betrachten. Dieser präsentiert sich uns maskenhaft und leicht diabolisch grinsend zwischen den wie eingefroren wirkenden Elementen. Doch wächst in seiner Brust bereits der Führer in ein neues Zeitalter heran.
Eine ebensolche Erstarrung bahnte sich in der Renaissance, die Zeit in der der Tarot entstand und die Nummerierung der 22 Großen Arkana sich allmählich festigte, immer stärker an. Damals kniete im christlichen Europa sogar der allmächtige Kaiser vor dem durchaus weltlich ambitionierten und militärisch streitlustigen Papst. Die Zeiten haben sich geändert. Doch selbst wenn wir heute – jedenfalls in Europa – zumeist nicht mehr gezwungen werden, uns einem religiösen Dogma zu unterwerfen, heißt das nicht, dass wir nicht weiterhin ähnlichem Druck ausgesetzt sind. Folgen wir nämlich unserer inneren Stimme und beschließen, uns einer Sinnsuche zu verschreiben, ist dies für unser Umfeld – seien es die Kollegen auf der Arbeit, die Familie oder der Freundeskreis – oft weder moralisch noch konventionell nachvollziehbar. Und so kann der steinige Weg zu individueller Erkenntnis neben den persönlichen Zweifeln weiterhin mit Verlust wichtiger Kontakte und Auseinandersetzung mit Vorurteilen verbunden sein.
Dennoch – damals wie heute gilt: Trumpf IV muss sich Trumpf V beugen. Keine materielle Macht steht über Gottes Stellvertreter auf Erden, wenn er uns ruft. Nur die alles vereinigende Liebe, Arkanum VI, kann ihn übertrumpfen, denn in ihr spüren wir endlich die Antworten auf die durch den Hohepriester aufgeworfenen Themen: Was verbindet uns Menschen miteinander? Was macht einen jeden und eine jede von uns einzigartig? Und warum sind wir hier?
Regent der Fünf Elemente
Doch noch einmal zurück zur Fünf, der Zahl des Hierophanten, bezeichnender Weise zumeist dargestellt durch ein Energie geladenes Pentagramm. Numerologisch gesehen sprengt die Fünf das starre Quadrat der Vier. Die materiellen Elemente (Erde, Feuer, Luft, Wasser) werden durch das Göttliche, durch Spiritualität belebt. Somit repräsentiert die Fünf die Essenz allen Lebens – eben jene Quintessenz, die den Tarotkundigen unter uns bestens bekannt ist als die Quersumme (Addierung aller Zahlen einer Auslage und erneutes Herunterrechnen der sich ergebenden Summe bis eine Zahl von 1–22 entstanden ist) einer Legung. Wird diese richtig gedeutet, fasst sie die Antwort des Tarot auf unsere jeweilige Frage in einer einzigen Karte präzise zusammen und vertieft die Aussage um einen wesentlichen Aspekt.
Übertragen wir diese Symbolik und numerologische Energie des Hierophanten auf das alttägliche Leben, so können wir sagen: Wir begegnen ihm immer dann, wenn wir unsere weltlichen Dinge geordnet haben und uns in Sicherheit wiegen, endlich angekommen zu sein. In diesen Momenten haben wir Zeit und Ruhe, unserer inneren, nie schweigenden Stimme nach Weiterentwicklung und Sinnfindung nachzulauschen. Uns vom oberflächlichen Alltag in die Tiefen der Seele zu bewegen.
Ob uns das, was wir bei dem Abstieg in uns selbst finden, dann dazu inspiriert, mit waagemutiger Abenteuerlust ins Unbekannte aufzubrechen oder wir lieber wieder ängstlich in unsere schützende Vierer-Struktur zurück schlüpfen, das bleibt uns erst Mal selbst überlassen. Wer jedoch den Ruf des Hierophanten einmal wirklich vernommen hat, wird sich schwer von ihm wieder frei machen können. Früher oder später werden wir wohl lernen müssen, auf ihn zu vertrauen.
Eine interessante Interpretation findet sich neuerdings in unserer neuen Teenager-Reihe zum Tarot: Curt erklärt.