Als ich James Wanless, dem kreativen Kopf hinter dem Voyager Tarot, im Oktober 2014 auf einer Konferenz Utrecht in den Niederlanden begegnete, war ich tief beeindruckt von seinem schillernden Charisma, seiner überbordenden Lebensfreude und seiner unglaublich spontanen Art, die Karten zu deuten. Er ist die absolute Verkörperung eines ewig reisenden Künstlers. So erstaunt es wenig, dass er seinen Tarot „Voyager Tarot“ — also „Tarot des Reisenden“ oder „Reise-Tarot“ getauft hat. Er hätte das Deck allerdings auch gut den „Sammler-Tarot“ nennen können, denn jedes seiner Motive besteht aus einer Photocollage (umgesetzt vom Künstler Ken Knutson) aus zahlreichen Gegenständen, die ihm auf seinen vielen Reisen in aller Welt begegnet sind.
Die Detailfülle und sehr persönliche Motivauswahl lassen nicht unbedingt vermuten, dass die Voyager-Karten auf James’ intensiver Auseinandersetzung auf dem Thoth Tarot von Crowley und Harris basieren. Doch genau das ist der Fall.
Irgendwann in den 1970ern hat sich der ehemalige Universitätsprofessor von seinem Job verabschiedet, die obligatorische Reise nach Indien angetreten und dort den Tarot für sich entdeckt. Gemeinsam mit heutigen Szene-Größen wie Mary K. Greer und Rachel Pollack lernte er dann bei der inzwischen leider verstorbenen Crowley-Expertin Angeles Arrien das traditionelle Kartenlegen, bevor er alle Konventionen in den Wind schlug und einfach sein ganz eigenes „Karten-Ding“ machte. Aus dem Narren formte er kurzerhand ein Narren-Kind
(im Deck symbolisiert durch einen Fötus), das stellvertretend für die Menschen des 21. Jahrhundert die Sinnreise antritt und sich dabei nach und nach das ganz persönliche Universum erschließt. Der Gedanke, dass jedes Kartenziehen den Aufbruch und die Ausdehnung in ein ganz eigenes Reich bedeutet, bestimmt auch die Rückseite seines Vogager-Decks. Was man erst einmal für ein kunstvolles Mandala halten könnte, ist ein Querschnitt durch einen DNA-Strang.
Auf der Reise durch die Großen Arkana begegnet das närrische Kind als Repräsentant der Fragenden den üblichen 21 Verdächtigen in der Crowley-Betitelung. Dabei werden oft bekannte Gottheiten aus unterschiedlichen Glaubenssystemen als Schutzpatrone genutzt. Kwan Yin steht da beispielsweise für den Stern, Buddha für den Hierophanten.
Die Hofkarten wurden von James entadelt. Hier treffen Suchende auf weitere Kinder (Prinzessinnen), Männer (Prinzen), Frauen (Königinnen) und Weise (Könige), die alle mit Nebennamen — wie die hier abgebildete Frau der Stäbe — Sensor — ausgestattet sind. In den Kleinen Karten veränderte James die Bezeichnung von Scheiben zu „Welten“ und Schwertern zu „Kristallen“. Versehen mit Schlagworten und der bereits beschriebenen Symbolfülle braucht es dann fast kein Deutungsbuch mehr, um sich von den Karten auf der eigenen Seelenreise begleiten zu lassen. Allerdings ist die Bereitschaft, sich auf ein völlig neues Taroterlebnis einzulassen, dafür unbedingte Voraussetzung.
Gerade dies, das gestehe ich freimütig, ist mir bei meiner ersten Begegnung mit dem Voyager äußerst schwer gefallen. Als mich James getreu seinem Lebensmotto „A Card a Day keeps the Shrink away“ (Eine Karte pro Tag hält den Therapeuten entfernt) dazu aufforderte, eine Karte aus seinem Deck zu ziehen, erwischte ich zu meinem großen Unmut den Gehängten“ Ich stand unmittelbar davor, einen Vortrag auf englisch vor niederländischem Publikum zu halten, war deswegen super nervös und außerdem tummelte sich gerade der rückläufigen Merkur meinem Aszendenten. In diesem Zustand ausgerechnet diese Karte zu ziehen, machte mich recht aggressiv. Auch ihre Symbol-Vielfalt verwirrte mich.
Einer Jungianerin wäre es vielleicht leichter gefallen, sich auf die hier ausgeschüttete Bildersprache des Unbewussten einzulassen. Ich aber fühlte mich erst einmal überfordert und genervt. Es blieb mir eigentlich nichts anderes übrig, als mich bei der Fülle an Motiven auf ein einziges zu konzentrieren, um tiefer in die Deutung der Karte einzusteigen. Erst später fiel mir auf, dass diese Vorgehensweise in einer Sackgassen-Situation, wie sie vom Gehängten angezeigt werden kann, oft genau die Richtige ist, ich mich also intuitiv der Kartenstimmung angepasst hatte.
Mein Blick verharrte auf der Muschel oben rechts, in der sich ein Gesicht spiegelt. Muschel und Spiegelbild — Symbole der Liebesgöttin Venus — warfen mich zurück auf die Herrscherin (Trumpf 3) und den Themen, die ich gerade mit dieser kapriziösen Diva am Laufen hatte. Dadurch schwenkte mein Fokus auf den Pelikan auf der linken Seite des Bildes, der ebenfalls mit der Herrscherin in Verbindung gebracht wird. Anstatt mich überhaupt mit dem Gehängten und möglichem Selbstmitleid über Stagnation und Opferhaltung zu beschäftigen — was ich sonst gern angesichts des Trumpfes XII tue — konnte ich voll und sofort an die natürlichen Führungsqualitäten der Herrscherin andoggen. Als mir dann auch noch das Karussell unterhalb der Muschel entgegen sprang und damit das euphorische Gefühl, das mit einem freien Fall verbunden sein kann, war ich nicht mehr zu halten. Ich stand auf und hielt einen meiner besten Vorträge.
Erst nach meiner mitreißenden Brandrede hatte ich Gelegenheit, mich mit James über meine Tageskarte auszutauschen. Er lenkte dabei meinen Fokus auf das Hauptsymbol der Karte, den leuchtenden Ring in der Mitte und etwas, was ich eigentlich für einen Anker gehalten hatte. Erst als er die Karte auf den Kopf stellte, erkannte ich es als das Kruzifix, das es war. Ich hatte es nicht nötig gehabt, mich in die Opferrolle zu begeben, sondern mich dank der Karte gleich an meine Herrscherinnen-Kompetenzen erinnert. Das beide Karten numerologisch über die Quersumme 12 = 3 eng miteinander verbunden sind, muss ich wohl hier nur am Rande erwähnen.
Ich beschreibe mein erstes „Voyager-Erlebnis“ hier so genau, weil ich Ihnen so wohl am ehesten die Qualität der Arbeit mit diesem wunderbaren Kartendeck verdeutlichen kann. Durch die andersartige Symbolsprache und die üppige Auswahl an Motiven, bei denen ich mich bei jeder Legung erneut von einem ganz anderen Element angezogen fühlen kann, musste ich mich in einer für mich herausfordernden Situation nicht mit den Problemen einer Karte beschäftigen, sondern konnte sofort auf Lösungsstrategien fokussieren. Auf Nachfrage bei anderen durchaus erfahrenen Kartendeutern habe ich festgestellt, dass sie ähnliche Geschichten zu berichten hatten. Dies ist wohl völlig im Einklang mit der Vision von James Wanless.
Er sieht sein Voyager Tarot als ein Allzweck-Werkzeug, das es in unterschiedlichsten Formen zu nutzen gilt: Als „Erleuchtungs-Wegweiser“, zum Philosophieren, als Buch der Weisheit oder Landkarte für das Beruf(ung)sleben. Etwas zum Geschichten erzählen oder zur Selbstheilung. Während ich dies schreibe, merke ich gerade, wie „schützig“ all diese Schlagworte sind. Das „Reise-Tarot“ ist also ein hervorragendes Hilfsmittel der Sinnsuche und „Pfadfindung“. Dank seiner erweiterten Symbolsprache, losgelöst von der Tradition der „klassischen“ Tarots eröffnet es — um im Schütze-Bild zu bleiben — völlig neue Horizonte des Kartenlegens und der damit verbundenen Arbeit an sich selbst. Ein Kartendeck, das einfach in jeden gut sortierten Sammlerschrank gehört — und ruhig täglich genutzt werden sollte. Leider ist es nur noch schwer zu ergattern. Doch inzwischen gibt es eine tolle App, die mir gute Dienste leistet.