Last Updated on 10. Juni 2019 by Tarotwissen
Vielen Anfängern fällt das Deuten von Hofkarten besonders schwer. Stellen die nun eher Personen dar, die unser Leben in irgendeiner Weise beeinflussen (Vorsicht, hier kann sich schnell Schicksalsglaube à la “da ist er, der große blonde Mann, der mich auf ewig glücklich machen wird” einschleichen) oder sind es vielmehr Charaktereigenschaften, die wir in einer Situation besonders darstellen oder vielleicht in uns wachrufen sollten? Zwischen diesen beiden Polen abzuwägen, die richtige Intuition und Gewichtung zu entwickeln, ist eine der schwierigeren Herausforderungen, denen sich verantwortungsbewusste Kartenleger stellen müssen. Prinzipiell liegen wir aber nie falsch, wenn wir nach einer Qualität erst einmal in uns selbst suchen, bevor wir sie auf andere Menschen übertragen.
Nicht gerade hilfreich dabei, Berührungsängste mit den Personenkarten zu überwinden, ist auch die Tatsache, dass sie in den „klassischen“ Decks von Waite und Crowley unterschiedliche Titel tragen (Waite: Bube, Ritter, Königin, König; Crowley: Prinzessin, Prinz, Königin, Ritter), die dann von den nachfolgenden Kartendesignern noch mal kunterbunt durcheinander gewürfelt wurden. Es ist schon etwas anderes, ob wir einen jungen Knappen oder eine junge Prinzessin auf der „niedrigsten“ Hofkarte abgebildet sehen. Während ersterer gern als (noch nicht unbedingt genutztes) geschlechtsloses Potential des jeweiligen Elements gelesen wird (nicht unähnlich der Energie der Asse), weist letztere Feminisierung doch eindeutig darauf hin, dass die Qualität von Neuanfang und Ursprungskraft viel mit persönlicher gelebter und ausgedrückter Weiblichkeit zu tun hat – eine Überlegung, die nicht nur für Frauen sondern auch für Männer lohnenswert sein könnte.
So wird z.B. der etwas geckenhafte, symbolisch nicht zu vielschichtige Stabbube aus dem Waite-Smith Deck– von dem uns die Interpretationsbücher immer wieder hauptsächlich erklären, dass er auf spannende Neuigkeiten, Chancen und Projekte hinweise – bei Crowley zur einer Feier des Frühlings: Eine sinnlich entblößte Prinzessin schleift den besiegten Tiger der eigenen Angst triumphatisch hinter sich, während sie in ungeahnte Wonnehöhen abhebt. Und dabei sehr an die sexuelle Verzückung der das Biest reitenden lasziven Lady auf Harris’ genialem Entwurf von Crowleys XI gemahnt.
Carl‑W. Röhrigs Interpretation
Crowleys, mich persönlich wesentlich stärker einnehmende symbolische Tiefe und Vielschichtigkeit wird im zeitgenössischen Deck des Künstlers Carl‑W. Röhrig aufgegriffen und für unser Zeitalter weitergeführt. Jede etwaige Androgynität, die der Hofkarte Bube einst eventuell innewohnte, ist gänzlich verschwunden. Röhrig stellt klar heraus, dass es sich bei der Energie dieser Karte um feurige, mitreißende Weiblichkeit handelt, die sich durch Impulsivität, Leidenschaft und Optimismus ausdrückt.
Die „Tochter der Schimmernden Flammen“ – wie diese Karte von Anhängern des Golden Dawn auch gern tituliert wurde – präsentiert sich uns hier als eine junge spärlich bekleidete Schönheit, die sich ihres unverhohlenen sexuellen Magnetismus’ mehr als bewusst ist, ihn exstatisch zelebriert. Wurzeln gleich strömen ihre bestrumpften Beine dem Boden entgegen und verbinden sie so mit der dem Erdelement innewohnenden Körperlichkeit. Crowleys Angsttiger ist nicht länger externalisiert. Sie hat ihre Ängste überwunden, zu einem integrierten Bestandteil ihrer Selbst gemacht. Das Tier ist nun Teil ihrer wallenden, sie umschmeichelnden Haarpracht, Symbol ihrer sexuellen Offenheit und Sinnlichkeit. Auch hier, wie bei Vorbild Crowley, ganz klar die Verbindung zum Trumpf Kraft. Die geschlossenen Augen der jungen Frau weisen darauf hin, dass sie sich selbst völlig genügt, niemanden braucht, um sie von der ihr innewohnenden Kraft und Ausstrahlung zu überzeugen. Das macht sie natürlich um so begehrenswerter für die Betrachter. Ihre Hände sind weit erhoben, es ist unklar, ob zum dionysischen Tanz oder Gebet oder eine Mischung aus beidem. Göttlich-weißes Licht trifft von oben auf ihr Drittes Auge, um ihren Körper zu durchfluten, zu energetisieren und – auf der Karte nicht sicht- aber erspürbar – als umgewandelte rote Lebenskraft an die Erde abgegeben zu werden. Transformiert durch die eigene Lebensfreude und den Genuss an der puren körperlichen Existenz.
Die Prinzessin der Stäbe in der Praxis
Ziehen wir die Prinzessin der Stäbe in einer Legung, so sollten wir uns erst einmal fragen, ob wir das Leben in ebenso vollen Zügen genießen, wie die junge Frau auf der Karte. Falls nicht, ist es höchste Zeit, dies schleunigst zu tun. Der Prinzessin ist die frühlingshafte Kraft des Widders zu eigen, der nicht lange nachdenkt, sinnlos gewordenes Altes hinter sich lässt und voll Spaß, Mut und Freude den Neuanfang wagt. Genau dazu sind wir aufgerufen, wenn wir die Karte ziehen. Versuchen Sie mal, das Leben als lustbetontes Abenteuer zu begreifen, in das Sie sich mit Enthusiasmus stürzen. Geben Sie sich dem Lebensstrom hin, nicht der Trauer an Vergangenes. Feiern Sie jetzt Ihren Frühling. Oder –wenn Sie es nicht alleine schaffen, lassen Sie sich von jemandem mitreißen, der diese Eigenschaften für sie verkörpert.
Nicht nur diese Aufforderung verbindet die Prinzessin der Stäbe mit dem Narren, dessen weiblichen Counterpart sie fast bilden könnte. Denn auch sie muss aufpassen, dass sie mit ihren überquellenden Energien etwas haushaltet. Sonst könnte es nur zu leicht geschehen, dass all ihre jugendliche Spannkraft einem Strohfeuer gleich schnell verpufft ist. Dass sie Dinge schnell anpackt, aber nicht zu Ende bringt. Richtig gelebt kann die Energie der Prinzessin jedoch fast initiatorische Kraft haben. Eine Kraft wie sie meiner Ansicht nach am besten in Goethes „Seliger Sehnsucht“ Ausdruck findet.
Sag es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet:
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Kirsten Buchholzer, 2005